Von Innsbruck bis nach Nizza in 21 Tagen

1.000 km und 27.000 HM – Alpengrenzgang mit Adrian Niski

 

„Hey Du! Wo rennst du denn hin?!“, ruft mir ein junger Kerl auf dem Weg von Les Houches Richtung Col de Voza im Schatten des Mont Blancs zu. Mir sind er und sein Kumpane zuvor nur wegen des riesigen Rucksacks aufgefallen. „Ich laufe nach Nizza, und ihr zwei?“, antworte ich den beiden total verschwitzen und aus der Puste geratenen. „Wir auch! Aber du hast doch nichts dabei?!“, ist der andere erstaunt. Ich grinse und meine, dass die beiden wohl viel zu viel dabeihaben.

 

Immer wieder begegne ich Wanderern und frage mich, was sie wohl alles in ihren High-Tech Rucksäcken tragen. Mir geht es schon nach dem zweiten Tag so, dass ich die Hälfte der Dinge, die ich für meinen mittlerweile dritten Alpengrenzgang-Versuch mitgenommen habe, auspacke und auf den Weg nach Hause schicke. „Klar, brauch ich das, lieber mehr Komfort und so“, rechtfertigte ich mich, wieso mein Wegbegleiter in diesem Jahr etwa 1,5 Kilogramm mehr wiegt als die Jahre zuvor. Das mit dem Komfort ist ja auch so eine Sache, nur muss ich die Dinge mitschleppen, da ich unsupported auf dem Weg bin. Das mini Charles Bukowski-Buch muss leider auch den Nachhauseweg antreten, obwohl es für die Aufheiterung am Abend gedacht war, doch es stellt sich heraus, dass Parkbank, Schlafsack und Sternenhimmel vollkommen zum Aufheitern reichen. Parkbank zugegebenermaßen aus der Not heraus, da ich mich auch von meiner 200 Gramm Isomatte trennte – auch 200 Gramm können zu viel Ballast sein.

 

Und überhaupt war es in diesem Jahr eine ganz andere Herangehensweise. Nach 2019 hätte ich mir nicht vorstellen können, nochmals in Innsbruck zu starten und Richtung Nizza zu rennen. Eigentlich ziemlich absurd das Ganze, dachte ich mir da noch. Doch nachdem sich im Frühjahr langsam ankündigte, dass wohl kaum oder keine Rennen stattfinden werden, dachte ich mir: „Ach, scheiß drauf, lass nochmal machen und eigentlich war es jedes Mal eine ganz besondere Zeit.“

 

Der zweite Tag startet mit einem unvergesslichen Sonnenaufgang und Steinböcken

 

Tag zwei sollte jedoch schon der erste Moment sein, wo die Ankunft in Nizza in weite Ferne rückte. Morgens an der Muttekopfhütte gestartet, ging es zum Höhenweg, wo ich mir an den Felsplatten den Fuß stieß. Mit ziemlichen Schmerzen stieg ich ins Tal ab und baute bereits an einer Plan B-Route für diesen Tag. Dieser endete in Lech und ich hoffte beim Sonnenuntergang auf Besserung für die kommenden Etappen. Leider war das nicht der Fall. So hieß es für mich, jeden Tag erneut einen Plan B zu haben, da sich mein Fußzustand nicht besserte. Entweder es war eine starke Prellung, oder, was mich bei jedem Schritt verunsicherte, eventuell sogar ein Bruch. Also fand ich nach ein paar Kilometern eine Lauftechnik, die zwar mehr nach Humpeln aussah, die aber zumindest halbwegs schmerzfrei war.

 

In den letzten vier Jahren, seit dem ersten Versuch nach Nizza zu laufen, habe ich viel dazugelernt. Nicht nur die Sicht auf die Dinge, die unvorhergesehen kommen, wie eine solche Fußverletzung. Auch wie man plant, läuft, isst – und natürlich entwickelt sich der körperliche Zustand mit den Jahren. Als ehemaliger Langstrecken-Triathlet dachte ich, alles wäre gut zu schaffen. Habe ich doch bereits zwei Mal einen „Ironman“ gefinished. Dementsprechend eisern fühlte ich mich auch. Beim damaligen Blick auf den Alpenbogen im Atlas dachte ich mir, dass 1200 Kilometern in 21 Tagen gut schaffbar wären. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich kaum Erfahrung im alpinen Bereich und meine längste gelaufene Strecke waren 52 Kilometer bei einem vergleichsweise „leichtem“ Trampelpfadlauf. Meine Reise nach Nizza im Jahr 2017 endete damals nach gerade mal 390 Kilometern.
Doch gerade über diese Naivität von damals bin ich heute noch sehr dankbar. Zwar wurde ich über die Zeit eines Besseren belehrt, doch ohne diese Einstellung und den leichten Umgang mit Herausforderungen wäre ich viele Dinge niemals angegangen. Scheitern gehört einfach dazu, nur muss man sich auch gewisse Dinge eingestehen können – das habe ich mittlerweile gelernt.
Was ich nicht einsehen konnte, waren die Schmerzen in meinem Fuß. Am schlimmsten war es für mich am Brienzer Rothorn auf der 7. Etappe. Oben angekommen genoss ich die unglaubliche Aussicht auf den Brienzer See und die Steinböcke, die in den Gräsern abhingen. Nach einem Mittagessen auf der Gipfelstation freute ich mich schon so sehr auf den Hardergrat – einem schier endlosen Grat, der sich parallel zum Seeufer Richtung Westen zieht. Doch leider musste ich frühzeitig absteigen und wieder im flachen humpeln, weil sich die Schmerzen im technischen Gelände nicht aushalten ließen.

 

AlpengrenzgangDer Hardergrat mit Blick Richtung Westen

 

Die Sicht auf Schmerzen hat sich mit den Jahren auch sehr verändert. Würde man „Wie fühlst du dich?“ in schlecht, gut, sehr gut unterteilen, hätte jede der drei Antworten früher genau ein drittel bekommen. Heute hat die Antwort „gut“ wohl einen Anteil von 90 Prozent. Ich meine, was will ich mich beschweren, ich habe entschieden loszuziehen und wusste ja, was auf mich zukommt.
Glücklicherweise verschwinden die Schmerzen nach dem 9. Tag und das Vorrankommen fühlt sich wieder wie Laufen an – nicht nur das, es scheint nun viel leichter zu gehen. Und in Chamonix angekommen, bin ich nach einigen Nächten auf Parkbänken wieder mal in einem Hotel. Dort gönne ich nicht nur meinen Klamotten dank Handwäsche etwas Wellness, sondern auch mir mit Duschgel, Rasierer und Deo.

 

Mit der Zeit lernte ich nicht nur, mit Schmerzen und Zweifeln besser umzugehen, sondern ich wurde auch in Sachen Routenplanung und dem ganzen Drumherum ein richtiger Freak. Ich liebe es in meiner Freizeit verschiedene Routen zu planen und einfach nur auf meinem Mobiltelefon zu speichern. Wenn man Solo unterwegs ist, muss man aber nicht nur wissen wohin man läuft, sondern am besten auch, wo man etwas zum Essen findet. Genau dieser Punkt wurde mir im letzten Jahr zum Verhängnis. Ich meinte alles durchdacht zu haben, war aber dabei, was das Essen angeht, zu schlampig.
Was nicht heißt, dass ich heuer von kleinen Fehlern verschont geblieben bin, wie auf der 8. Etappe in Richtung Fluhseeli in der Schweiz. Eigentlich war mir klar, dass im Talort Adelboden so ziemlich die letzte Möglichkeit war, etwas richtiges zum Essen zu bekommen. An später hatte ich wohl nicht gedacht, als ich dort die Pizza verschlang – war ja Sonntag, quasi „Ruhetag“. Zudem fehlte mir noch das Bargeld um in den kleinen Hüttchen auf dem Weg zu bezahlen, es ging leider nur Cash. So musste ich mich dann am Fluehseeli mit den letzten NicNac´s, die auch noch zum Frühstück reichen mussten, zufriedenstellen.

 

 

Hauptversorgung für unterwegs – „vorgekaute“ Sandwiches

 

Das Versorgungsproblem löste ich gegen Ende meiner Tour recht einfach, vielleicht etwas zu einfach – ich lief viel auf den Asphaltstraßen. Wie auf der Etappe 12, von Bourg Saint Mourice nach Lanslebourg, wo ich in Richtung Skiort Val d´Isere auf der Hauptstraße hoch lief und mich mehr Radsportler als Autos überholten. Ein tolles Gefühl, vor allem weil mich der Großteil der Leute auf den Rennrädern mit dem klassischen „Allez, Allez“ anfeuerten – als Radsportfan kam Tour de France Feeling in mir auf.
Mit dem Verschwinden der Schmerzen im Fuß, wurde das Vorankommen immer einfacher, obwohl ich schon etliche Kilometer und Höhenmeter abgespult hatte.

 

Es ist zur Routine geworden und ich genoss die täglichen Abstecher in die Restaurants zum Essen und das lebhafte Gewusel in den Orten. Doch mein härtester Tag sollte auf der vierzehnten Etappe noch kommen. Nachdem ich nach den ersten dreißig Kilometern Mittag gegessen hatte, ging plötzlich gar nichts mehr. Da half auch kein Eistee mehr. Ich musste mich hinlegen und kämpfte mit mir und der plötzlich aufgetretenen Übelkeit. Auf dem Supermarktparkplatz liegend versuchte ich einen kurzen Powernap zu machen und hoffte auf Besserung – es half nichts. Nach 20 Minuten auf dem Boden liegend entschied ich mich dazu „einfach mal weiterzulaufen“. Die Hitze war unerträglich und ich kam kaum voran. So ein Vorhaben ist aber auch ein absoluter Selbstbetrug. Man gaukelt sich sowieso die ganze Zeit vor, dass alles gut ist – das kannte ich ja schon von meinen Schmerzen im Fuß. Es ist unglaublich, wie schnell Schalter umgelegt werden können – auch in diesem Fall.

 

Deutschrap auf die Kopfhörer, mitrappen und es geht wieder – von einem auf den anderen Moment. Es ging wieder vorwärts. Ab da war ich mir absolut sicher, dass mich bis Nizza nichts mehr stoppen konnte. Doch – einen kleinen Moment gab es noch. Ein wunderschönes Hochtal folgte an diesem 14. Tag – zuvor gab es Warnschilder. Irgendetwas mit Hunden. „Klar, kenn ich schon, ist sicher ´ne Hütte mit ´nem Hund. Alles schon gehabt.“ Auf dem Abstieg vom Hochtal sehe ich irgendwann zwei große graue Steine links und rechts vom Weg. „Ganz schöne Brocken“, denke ich noch. „Lustig, ich fange schon an zu halluzinieren, schauen aus wie zwei riesige Hunde.“ Eigentlich finde ich diesen Zustand ganz nett, wenn man anfängt Dinge zu sehen, die es nicht gibt, oder intensiver zu fühlen. Das kann man sich in etwa so vorstellen, wie wenn man in einer Bar oder Club ein paar Drinks zu viel hatte und an die frische Luft kommt. Doch diesmal behielt ich recht, es waren tatsächlich Hunde, Bärentöter, wie man sie nennt. „Fuck…!“

 

Nicht nur zwei, es sind fünf. Ich wurde von ihnen sofort eingekreist und hielt meine Stöcke weit ausgestreckt, um die Tiere auf Abstand zu halten. Gleichzeitig schrie ich und hoffte, dass mich der Schäfer hört. Zum Glück ging alles gut, der Schäfer rief seine Hunde zusammen und ich konnte weiter.

 

Hotel nach meinem Geschmack

 

Von da an ging alles ziemlich schnell. Bis Nizza war es nicht mehr weit und ich konnte es kaum erwarten anzukommen. Auf den letzten Etappen hatte ich ein Hoch und konnte problemlos Kilometer um Kilometer abspulen. So auch am vorletzten Tag, wo ich mich nach knapp 76 Kilometern auf die Bank an einem Boule-Platz legte. Es war schon spät am Abend, ich aß noch meine Reste vom Abendessen auf und freute mich schon auf meinen Schlafsack, als fünf ältere Herren mit dem typisch französischen Boulespielen loslegten. Das störte mich nicht, die Männer wohl auch nicht und ich schlief gegen Mitternacht ein, als sie endlich den Sieger ausgefochten hatten.

 

Nizza begrüßt mich mit Meer, Sonne und Pizza

 

Am letzten Tag zog sich dann alles in unendliche Länge. Hatte ich zwar nicht so viele Kilometer vor mir, doch konnte ich es nicht mehr erwarten, in Nizza anzukommen. Ich ließ mir aber Zeit und genoss die letzten Kilometer, denn meine Reise war an diesem Tag vorbei. Einerseits schade, da ich nun so richtig im Rhythmus war und hätte gefühlt ewig so weitermachen können. Andererseits freute ich mich wieder auf mein Zuhause, auf Partnerin, Freunde und die Familie. Die Zielankunft war unspektakulär, aber deshalb auch so schön. Ich bin kein Fan von Tamtam und Spektakel. Blick aufs Meer, Spaziergang entlang der Promenade, Pizza im Karton und die warme Sonne. Schöner hätte ich mir den letzten Tag nicht vorstellen können. Glücklich, das Ziel erreicht zu haben, dachte ich schon an die kommenden Herausforderungen im Leben, sei es sportlich, privat oder beruflich – ich möchte wieder neues Lernen, Erleben und auch wieder Scheitern, so wie auf meinem Alpengrenzgang.

 

Text von Adrian Niski

Instagram: @endurancebub

 

Das ist die Ausrüstung, die Adrian dabei hatte: