Dammkar: Auf den Spuren des Wurms

Sieben Kilometer und 1300 Abfahrtsmeter mitten im hochalpinen Gelände – Wer dieses Skiabenteuer erleben will, muss nicht nach Chamonix oder La Grave pilgern, sondern nur nach Mittenwald. Das Dammkar lockt seit jeher Tiefschneefreunde ins Karwendel. Diese Abfahrt ist Kult…aber Nichts für Skianfänger.

 

 

Da ist ein Licht am Ende des Tunnels. Seit 400 Metern hatte das rhythmisch-hohle „Kawumm! Kawumm!“ der Skistiefel in der funzellichtbeleuchteten Röhre die beiden Mädels fast in Trance gewiegt. Aber jetzt stehen Caja und Anna vor der massiven Eisentüre, die die Zivilisation von der Wildnis, die Ruhe von dem Sturm trennt. Skistiefel zuknallen. Skibrille runter. Alle Reißverschlüsse bis zum Anschlag zu. Luft anhalten. Und raus jetzt! Die Letzte macht die Türe zu. Aber statt einer Watschn des eiskalten Winterwinds wartet heute hier oben auf 2200 Meter Höhe das schönste Karwendel-Kino vor eisblauem Himmel auf die beiden Freeriderinnen.

 

„Aber jetzt stehen Caja und Anna vor der massiven Eisentüre, die die Zivilisation von der Wildnis, die Ruhe von dem Sturm trennt.“

 

Nach dem Cinemascope-Selfie mit Tunneltüre heißt es: mit einem satten Klack-klack-klack-klack in die Bindung einsteigen und rein in den weißen Puder! Gleich nach dem Stollen wartet das steilste Stück der gesamten Abfahrt. Wer sich auf den ersten Schwüngen nicht sofort pudelwohl fühlt – oder im Bruschharschdeckel geradeaus fährt – kann ohne großen Act kehrtmachen und mit der Seilbahn wieder ins Tal hinabgondeln. Verpasst dann jedoch eine Kulisse, die (fast) mit der in Cham oder La Grave mithalten kann: Felswände streben senkrecht in den Himmel, steile Schneerinnen fallen ins Nichts – und mittendrin führt eine steile, aber niemals sausteile Tiefschneeabfahrt hindurch. Nur ganz oben eng und ernsthaft, ab der sogenannten „Schrägfahrt“ dann als weite Rechts-links-Kombination über Riesenhänge zur Baumgrenze. Dammkar. Das klingt nach Männerlatten statt Zahnstocherski, nach Felsstollen statt Christstollen. Und nach Powderalarm aufs Handtelefon.

 

Dammkar ist und bleibt Kult! Und protzt mit allerhand Superlativen: die längste Abfahrt im Lande (sieben Kilometer), die meisten Tiefenmeter (1300), das erste Freeride-Revier Deutschlands (seit 1999). Die anspruchsvollste und spektakulärste weit und breit. Aber auch eine der traditionsreichsten. Was viele nicht wissen: Die Anfänge der Dammkar-Abfahrt reichen weit in die Dreißiger Jahre zurück.

 

„…und mittendrin führt eine steile, aber niemals sausteile Tiefschneeabfahrt hindurch.“

 

Also ab in die Zeitmaschine:


Dieser Wurm hatte mehr als 10 000 Beine. Zumindest an sonnigen Sonntagen. Und wand sich über 1300 Höhenmeter aus dem Oberen Isartal bis weit hinauf ins Karwendel. In den Dreißigern – und dann wieder seit dem ersten Nachkriegswinter – war der „Dammkarwurm“ das Synonym für die Wochenend-Winterfrische der Münchner Skitouristen. In den Nachkriegsjahren reisten im Hochwinter abertausende Skifahrer mit Sonderzügen aus der Hauptstadt nach Mittenwald, um durch den Tiefschnee bis hinauf zur „Eisbar“ an der Unteren Dammkarscharte auf 2200 Meter Höhe zu stapfen. „Da ham’s einen riesigen Tresen und Sitzbänke in den Schnee reingegraben“, erzählte Heini Hornsteiner (1932–2017) in einem Interview im Jahre 2012. Hochprozentiges Vorglühen vor der heißen Steilfahrt durchs „Kanonenröhrl“ …

 

Der „Tschulli Heini“ war als Sohn des Erbauers der Dammkarhütte gewissermaßen von Jugend an der Hausmeister des Dammkars. Von 1952 bis 1997 war der Mittenwalder selbst Wirt der Dammkarhütte. Die winzige Steinhütte thront auf einer Aussichtsterrasse unter dem Viererkar und dem „Bergwachthang“. Keiner kannte das Dammkar und seinen Wurm besser als er. Warum die Skitouristen ihre Ski geschultert haben? „Von ganz unten bis ganz nauf ging eine Stapfspur. Da hast gar keine Felle gebraucht.“

 

Aber schon zwanzig Jahre vor der Wirtschaftswunderwurmzeit war das Dammkar der Ski-Hotspot im deutschen Alpenraum. Das erste Dammkarrennen 1932 ging noch ganz ohne Tore bis zum Bankerl. 1934 wurde dorthin ein Skiweg gebaut. „Die Spuren zwischen den Toren waren oft so tief, dass nur noch der Kopf des Läufers rausschaute“, erinnerte sich Heini Hornsteiner. Im Dammkar fand von 1937 bis 1939 sogar ein international besetzter Riesentorlauf statt. Schon kurz nach dem Krieg wurde das Rennen wieder ausgetragen – und Mirl Buchner aus Garmisch-Partenkirchen fuhr den ersten einheimischen Sieg ein. Das Rennen fand am 5. Mai 1946 statt. Warum so spät im Winter? „Vom 3. Oktober bis 9. März kommt die Sonne nicht ins Dammkar!“, wusste der Tschulli Heini ganz genau. „Das war eine reine Frühjahrskitour. Vor Ostern ist da keiner rein.“ Erst in den letzten Jahrzehnten werden die Lawinen gesprengt, bevor die Freerider von heute sich ins Dammkar stürzen. „Mei, die Lawinen! Wenn mal ein Schneerutsch die Rennstrecke zugeschüttet hat, dann hat man die Stangen halt noch mal umgesteckt. Und 1965 hat’s in der Osterwoche drei Meter geschneit“, erinnerte sich Heini. „Drei Meter!“

 

1967 kam dann die Karwendelbahn. Und aus dem Dammkarwurm wurde im Lauf der Jahrzehnte ein Wurmfortsatz. Statt durch den Tiefschnee hinaufzustapfen, ließen sich Einheimische und Zuagroaste nun lieber in acht Minuten bis hinauf ins hochalpine Gelände gondeln. Mitte der Siebziger Jahre wurde dann der Fußgängertunnel eröffnet. So konnten Skifahrer ab sofort das Abenteuer Dammkar gefahrloser – wenn auch längst nicht gefahrenfrei – erleben. Denn eines muss jedem Dammkar-Aspiranten klar sein: Deutschlands längste Skiabfahrt ist eine „Skiroute“. Hier gibt es keine Pistenpräparation, man braucht vollständige Lawinenausrüstung, also LVS, Schaufel und Sonde – und muss auch damit umgehen können! Die Hänge des Dammkars werden zwar gesprengt, Lawinen-Know-how und gesunder Menschenverstand gehören hier oben aber unbedingt dazu. Sobald die Lawinenkommission ihr Okay gibt, heißt es: „Powderalarm!“ Aber auch nur zu oft: „Buckelpistenalarm!“ Oder gar „Bruchharschalarm!“ Also sollten sich nur versierte und fitte Skifahrer auf das Skiabenteuer Dammkar einlassen. Am besten möglichst bald nach Neuschneefällen …

 

„Dabei orientieren sich die beiden Mädels immer links an der Felswand.“

 

Apropos Skiabenteuer: Caja und Anna halten sich nach dem spektakulären Start im steilen Starthang nun tendenziell immer links, folgen dem großen Stahlzaun bis zu einer prominenten Schrägfahrt. Am Ende des Zaunes geht’s in bestem Powder rechts und zum tiefsten Punkt einer Rinne. Dabei orientieren sich die beiden Mädels immer links an der Felswand. An der Bergwachthütte heißt es: ausschnaufen! Umdrehen! Und die eigene Line bewundern! Nach der Kür folgt aber noch lange nicht die Pflicht: Von der Bergwachthütte fahren die beiden Tiefschnee-Chicas in den weiten „Bergwachthang“ ein, schießen die Ebene hinaus und biegen nach rechts ins „Kanonenrohr“ ein. Am dessen Ende erreichen sie am „Bankerl“ die Baumgrenze und animieren auf dem präparierten Forstweg die Kanten zum Funkenfliegen. Das Skiabenteuer Dammkar endet erst kurz vor der Talstation. Bleibt die Frage: Feierabend oder nochmals hoch? Wetten dass …?

 

Freeride Dammkar

Anna und Caja

Karwendel info


Die Freeride-Abfahrt durchs Dammkar ist eine nicht präparierte Skiroute, die an der Gipfelstation der Karwendelbahn beginnt (400 Meter langer Fußgängertunnel) und sieben Kilometer und 1300 Tiefenmeter später an der Talstation endet. Die Skiroute führt durch hochalpines Gelände und erfordert alpine Erfahrung, fahrerisches Können und gute Kondition. Das Befahren erfolgt in eigener Verantwortung und auf eigene Gefahr. Die Skiroute wird von keinem Rettungsdienst betreut. Die Sicherung vor Lawinengefahr beschränkt sich nur auf den als „Skiroute“ gekennzeichneten Bereich. Bei gesperrter Skiroute werden keine Wintersportler mit der Seilbahn zur Bergstation befördert.

Infos unter www.karwendelbahn.de

 

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Fotos: ©Anton Brey